Der Beitrag der nachhaltigen Raumentwicklung zur grossen Transformation

Damian Jerjen, Direktor EspaceSuisse
Dienstag, 21.09.2021
Es braucht einen Perspektivenwechsel, um die aktuelle nicht nachhaltige Entwicklung zu korrigieren. Dies fordern Forscherinnen und Forscher der ARL, der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft. Biodiversität und Klimaschutz, also die ökologische Dimension, ist gegenüber der ökonomischen und sozialen zu priorisieren. Dafür braucht es ein Umdenken in der Gesellschaft und Mut in der Politik.

Der aktuelle Forschungsbericht «Nachhaltige Raumentwicklung für die Grosse Transformation» der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (ARL) liest sich über weite Strecken wie ein politisches Manifest. Die Ausgangslage ist klar: Nachhaltigkeits- und Klimaschutzziele wurden bisher in allen Handlungsfeldern öfter verfehlt als eingehalten. Die zentrale Frage daher lautet: Was muss geschehen, um das Konzept der Nachhaltigkeit weiterzuentwickeln hinsichtlich der gesellschaftlich anerkannten «Klimakrise»? Verschiedene Autorinnen und Autoren haben sich während drei Jahren intensiv mit den Möglichkeiten einer umfassenden Transformation auseinandergesetzt. Die Resultate wurden nun in einem Forschungsband der ARL publiziert.

Radikale Anpassung des Nachhaltigkeitskonzeptes

Die grosse Transformation meint die Umbruchphase von einer fossil geprägten, nicht-nachhaltigen in Richtung einer postfossilen, nachhaltigen Entwicklung. Die Beiträge im Forschungsband gehen von der Feststellung aus, dass gegenwärtige Gesellschaften und Wirtschaftssysteme nicht nachhaltig sind; Gleiches treffe auch auf die bestehenden Raumstrukturen zu. Das heisst, die Raumplanung ist das Abbild von Gesellschaft und Politik. Über Jahrzehnte wurden ökonomische Ziele im klassischen Nachhaltigkeitsmodell den ökologischen übergeordnet (siehe Kasten weiter unten). Dadurch wurden sozial-ökologische Probleme nicht angegangen und langfristige Verstösse gegen Gemeinwohl- und Vorsorgeinteressen wie den Schutz von Natur, Ökosystemen und menschlichem Lebensraum vernachlässigt.

Zwar hat die Raumentwicklung in den letzten zwei Jahrzehnten mit Massnahmen gegen den Flächenverbrauch und die Zersiedlung auf die nicht-nachhaltige Entwicklung reagiert. In der Schweiz geschah dies beispielsweise mit der Revision des Bundesgesetzes über die Raumplanung, dem sogenannten RPG 1, das seit 2014 in Kraft ist. Der alleinige Fokus auf den Flächenverbrauch genügt jedoch nicht. Notwendig ist eine Rückbesinnung auf die uns gemeinsame Natur sowie intakte Ökosysteme als Grundlage und Resultat sozioökonomischer Entwicklung. Die Forscherinnen und Forscher fordern daher eine Anpassung des klassischen Nachhaltigkeitsmodell. Es braucht eine klare Priorisierung: Biodiversität und Klimaschutz müssen ein unverrückbares Fundament bilden, auf dem die Säulen ÖkonomieKulturSoziales aufbauen.

Ökosystemleistungen rücken ins Zentrum

Da eine Entkoppelung des Wirtschaftswachstums von den natürlichen Grundlagen nicht möglich scheint, seien – so die Forscherinnen und Forscher – Lösungsansätze im Spannungsfeld zwischen technologischen Innovationen und Marktanreizen einerseits sowie Suffizienz- und Konsistenzgewinnung durch Steuerung und qualitatives Wachstum andererseits zu finden. Zentral ist dabei das Konzept der Ökosystemleistungen (siehe Kasten). «Natur» wird in diesem Konzept als «funktionsfähige Ökosysteme» definiert und kann nicht durch menschliche Güter oder Leistungen ersetzt werden. Die Forscherinnen und Forscher identifizieren bei der «Marktfähigkeit» des Konzeptes der Ökosystemleistungen und deren Umsetzbarkeit in der Raumplanung allerdings einen akuten Forschungsbedarf. Diese neue und radikale Sicht auf Nachhaltigkeit hat Auswirkungen auf die raumplanerische Interessenabwägung und bedingt Anpassungen der herkömmlichen Planungsgrundlagen, -instrumente und -prozesse.

Breite Mitwirkung und Dialog als Erfolgsfaktoren

Die Akteure der räumlichen Planung und Entwicklung müssen die Bedeutung der Ökosystemleistungen sowie deren Wert für den Klimaschutz kennen und insbesondere auch einem breiten Publikum vermitteln können. Damit die strategischen Ziele auf der Ebene der Umsetzung ankommen, bedarf es einer Integration in die formellen Instrumente (beispielsweise Richtpläne, Gesetze, Ortsplanungen). Hier sind die Gemeinden gefordert.

Die Beteiligung aller gesellschaftlichen Akteure sowie die direkte Bürgerbeteiligung werden im Bericht als Schlüsselfaktoren für die grosse Transformation genannt. Zu der öffentlichen und partizipativen Debatte gehören auch eine umfassende Information und Bildung. Politik, Planung und Verwaltung müssen durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit, professionelle Mitwirkungsprozesse eine Kultur der Beteiligung entwickeln. Oftmals sind es die nicht-staatlichen Akteure, von denen raumrelevante Transformationsimpulse und -initiativen ausgehen. Daher sind diese Akteursgruppen für die Raumentwicklung besonders relevant. Sie müssen noch stärker in formelle und informelle Planungs- und Entscheidprozesse eingebunden werden.

Im Forschungsband wird anhand verschiedener Beispiele aus Deutschland und der Schweiz in den Themenbereichen Wohnen, Digitalisierung und Ernährung aufgezeigt, wie Transformationspotenziale aktiviert werden und welches die entscheidenden Akteure der grossen Transformation sein können. Dabei wird unter anderen am Beispiel der Zürcher Wohnbaugenossenschaft «mehr als wohnen» und deren Wohnungsbauprojekt Hunziker Areal erörtert, wie ambitionierte Nachhaltigkeitsziele verfolgt werden können. Das Projekt gilt als Good Practice-Beispiel für eine nachhaltige Transformation. Bis 2050 soll der Energieverbrauch auf 2000 Watt Dauerleistung und der CO2-Austoss pro Person und Jahr auf eine Tonne gesenkt werden.

Die verschiedenen Beiträge im Forschungsband der ARL sind zukunftsweisend und unterstreichen die Verantwortung der Raumplanung für die Transformation. Eine nachhaltige Raumentwicklung bedarf jedoch eines Prozesses, dessen Gestaltung gemäss den Autorinnen und Autoren unterschiedlichen Weltbildern unterliegt. Die Verständigung über diese ist zentral, um gemeinsame Ziele zu definieren und zu erreichen.

Den Forschungsbericht der ARL 121: «Der Beitrag nachhaltiger Raumentwicklung zur grossen Transformation – Impulse für neue Strategien» können Sie hier herunterladen.

Nachhaltige Entwicklung

Dies bezeichnet eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der jetzigen Generation dient, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Eine Entwicklung ist nachhaltig, wenn sie Mensch und Natur global nicht schadet, gar wohltut und (auch intergenerational) gerecht ist. Diese Definition aus dem sogenannten Brundtland-Bericht aus dem Jahre 1987 hat den weltweiten Diskurs über Nachhaltigkeit bzw. nachhaltige Entwicklung der letzten dreissig Jahren geprägt. Anlässlich der Konferenz der UNO über Umwelt und Entwicklung (als Rio-Konferenz bekannt) wurde 1992 auf der Grundlage des Brundtland-Berichts die Agenda 21 beschlossen. Die Agenda 21 ist ein Aktionsprogramm der UNO, welches Leitlinien zur nachhaltigen Entwicklung für das 21. Jahrhundert setzte, und zwar in den drei Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales.

Ökosystemleistungen (ÖSD)

Mit ÖSD sind Nutzen oder Vorteile gemeint, die Menschen von Ökosystemen beziehen und für ihre Existenz notwendig sind. Die Funktions- und Regenerationsfähigkeit dieser ÖSD wird seit Jahrzehnten durch menschliche Aktivitäten beeinträchtigt. Dass die ökologischen Ziele bei der heutigen Nutzung der natürlichen Ressourcen und dem prognostizierten Bevölkerungsanstieg unmöglich erreicht werden können, entspricht heute einem wissenschaftlichen Konsens. Mit dem Konzept der Ökosystemleistungen soll deren Wert so weit als möglich quantifiziert und in Entscheidungsprozessen und in den Marktpreisen berücksichtigt werden.

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