Klimaschutz versus Naturschutz

Damian Jerjen, Ökonom und Raumplaner, Direktor EspaceSuisse
Montag, 03.10.2022
Das eidgenössische Parlament hat in der Herbstsession in Windeseile verschiedene Geschäfte beraten, um die Produktion von Energie aus erneuerbaren Quellen anzukurbeln. Dabei wurde der Natur- und Landschaftsschutz zuweilen massiv geschwächt. Eine Einschätzung aus Sicht der Raumplanung.
Grimselstausee
Foto: Barbara Jud, EspaceSuisse

Das Bundesparlament hat in der Herbstsession verschiedene wichtige Geschäfte im Bereich der erneuerbaren Energien beraten. Die aus Sicht der Raumplanung herausragenden Geschäfte sind:

  • Bundesgesetz, Sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien (Mantelerlass)
  • Indirekter Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative
  • Indirekter Gegenvorschlag zur Biodiversitätsinitiative (siehe News zur Herbstsession vom 3.10.2022)

Im Zentrum der Debatten: der Zielkonflikt zwischen Produktion von Energie aus erneuerbaren Ressourcen und Schutz von Natur und Landschaften. Ein Überblick.

Mit dem Bundesgesetz für eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien, dem sogenannten Mantelerlass, soll die Energiestrategie umgesetzt und insbesondere ein rascher Ausbau der einheimischen Energiequellen ermöglicht werden. Am 21. Mai 2017 hat das Schweizer Stimmvolk das revidierte Energiegesetz angenommen. Dieses wurde damals angepasst, um die Ziele der Energiestrategie 2050 zu erreichen: Energieverbrauch senken, Energieeffizienz erhöhen, erneuerbare Energien fördern. Zudem wurde der Bau neuer Kernkraftwerke verboten.

Inzwischen ist viel geschehen. Der Krieg in der Ukraine hat aufgezeigt, wie wichtig ein rascher Ausbau der Stromproduktion ist, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Gemäss der ständerätlichen Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie (UREK-S) sollte hierfür gar der Naturschutz empfindlich geschwächt werden. Die Interessen der Stromproduktion sollten über allen anderen Interessen stehen. Der Ständerat hat dies leicht zugunsten des Umweltschutzes korrigiert. So sollen die Umweltbestimmungen für die Produktion von erneuerbaren Energien in Kraft bleiben, auch die gesetzlichen Restwassermengen gelten weiterhin. Andererseits wird jedoch der Schutz von Biotopen aufgeweicht: Der Bau von Stromproduktionsanlagen in Biotopen von nationaler Bedeutung soll neu möglich sein. Weiter sind Wasserkraftwerke, Fotovoltaikanlagen und Windkraftwerke von einem nationalen Interesse, wenn sie einen zentralen Beitrag zur Erreichung der Ausbauziele leisten. Das nationale Interesse der Stromproduktion geht den kantonalen, regionalen und lokalen Interessen vor.
Das Geschäft geht nun an den Nationalrat. Weitere Infos finden sie hier.

Energiegesetz

Im Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien werden verbindliche Zielwerte für die Jahre 2035 und 2050 festgelegt.

Zielwerte Produktion:

  • Erneuerbare Energien (ohne Wasserkraft): 35 TWh bis 2035; 45 TWh bis 2050
  • Wasserkraft: 37,9 TWh bis 2025; 39,2 TWh bis 2050

Importrichtwert:

  • Der Import von Elektrizität im Winter soll netto 5 TWh nicht überschreiten

Verbrauchsziele (im Vergleich zum Jahr 2000)

  • Durchschnittlicher Energieverbrauch pro Person: -43 % bis 2035 (-53 % bis 2050)

Im Rahmen der Beratungen zum ursprünglich vom Bundesrat vorgeschlagenen direkten Gegenentwurf zur Gletscher-Initiative ging das eidgenössische Parlament noch einen Schritt weiter und schwächte die Natur- und Landschaftsinteressen deutlich ab.

Einerseits haben die beiden Kammern einen indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative, neu Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit, beschlossen. Die vorgesehenen Massnahmen und Klimaziele sind ambitiös. Sie haben denn auch dazu geführt, dass die Initianten den möglichen Rückzug ihrer Gletscherinitiative angekündigt haben. Die SVP jedoch hat das Referendum gegen die Vorlage angekündigt.

Andererseits wurde in Zusammenhang mit diesem Geschäft auch ein neues Bundesgesetz über dringliche Massnahmen zur kurzfristigen Bereitstellung einer sicheren Stromversorgung im Winter verabschiedet. Dieses umfasst die Solaroffensive sowie die Erhöhung der Grimselstaumauer und ist bereits seit 1. Oktober in Kraft. Für Diskussionen sorgte dabei unter anderen Artikel 71a, die sogenannte «Lex Grengiols»: Photovoltaik-Grossanlagen (> 10 GWh) gelten neu als standortgebunden, die Planungspflicht ist obsolet. Einzig Moore und Moorlandschaften nach Artikel 78 Absatz 5 der Bundesverfassung bleiben verschont. Auch wenn im Nationalrat noch zugunsten des Umweltschutzes korrigiert wurde und beispielsweise nicht auf eine Umweltverträglichkeitsprüfung verzichtet werden soll, werden die Umweltinteressen in der Interessenabwägung erheblich geschwächt. Weiter muss der Vorrang der Versorgungssicherheit nur «grundsätzlich» überwiegen, aber nicht absolut.

Das zweite Element der Vorlage betrifft die Solarpflicht für Neubauten mit einer Fläche von mehr als 300 Quadratmetern. Diese Mindestmenge führt dazu, dass Einfamilienhausbesitzer ihre Dächer nicht für die Solarenergie nutzen müssen.

Die Unterlagen zur Gletscher-Initiative und dem direkten Gegenentwurf finden Sie hier

Eine Einordnung aus Sicht der Raumplanung  

Dass die Dringlichkeit beim Ausbau der Energieproduktion aus erneuerbaren Rohstoffen hoch ist, um einerseits die Klimaziele zu erreichen und andererseits die Versorgungssicherheit der Schweiz sicherzustellen, bestreitet niemand. Nur beim Weg dahin sind die Meinungen verschieden. Eine Mehrheit des Bundesparlamentes ist der Meinung, dass der notwendige Ausbau nur auf Kosten des Natur- und Landschaftsschutzes zu erreichen ist und dass die isolierten grossen Anlagen (z. B. Gondo oder Grengiols) sogar in geschützten Landschaften wie etwa Biotopen zu forcieren sind. Ausser Acht gelassen wird dabei offensichtlich, dass gerade diese unberührten Naturflächen oftmals noch intakte Ökosysteme umfassen, welche einen bedeutenden Beitrag zum Klimaschutz leisten. So gehören die Alpen und die Voralpen zu den letzten mehr oder weniger intakten Ökosystemen der Schweiz. Die Wissenschaft verweist darauf, dass die derzeit geschützten Flächen bei weitem nicht ausreichen, um die Klima- und die Biodiversitätskrise zu bewältigen. Um die Ausbauziele zu erreichen und insbesondere den dringend benötigten Winterstrom aus erneuerbaren Ressourcen zu produzieren, sind alpine Solaranlagen (und Windanlagen, die leider in der politischen Debatte kein Thema waren) unabdingbar. Solaranlagen auf Freiflächen ausserhalb der Bauzone müssen in erster Linie an Standorten geplant und realisiert werden, die bereits erschlossen sind – vor allem bezüglich Stromanschluss. Entscheidend sind zudem eine raumplanerische Begleitung und eine ausgewogene Abwägung zwischen Schutz und Nutzen.

Die vom Parlament beschlossenen Änderungen begünstigen jedoch den Bau von Anlagen ausserhalb der Bauzone stark – insbesondere in der weitgehend unberührten Natur im alpinen Raum. Mit den vorgesehenen finanziellen Anreizen verhindern sie gleichzeitig innovative Lösungen bei bestehenden Infrastrukturen sowie innerhalb der Bauzone. Denn diese dezentrale Nutzung von Fotovoltaik auf privaten Dächern, öffentlichen Anlagen sowie den meist grossflächigen Industrie- und Gewerbebauten in Arbeitszonen kann innerhalb nützlicher Frist ebenfalls einen beträchtlichen Beitrag leisten.

Für einen raschen Ausbau der erneuerbaren Energien müssen wir schneller zu einer integralen Planung kommen. Ziel ist ein gesamtschweizerisches Konzept für Wind-, Wasser- und Solarenergie. Dieses Konzept kann den Kantonen als Grundlage für die Anpassung ihrer Richtpläne dienen. Bei der Ausarbeitung von entsprechenden Lösungen sind die gültigen grundlegenden rechts- und staatspolitischen Mechanismen der Schweiz bei- und aufrechtzuerhalten – gemeinsam mit den bewährten Prinzipien und Instrumenten der Raumplanung wie das Konzentrationsprinzip und die daraus abgeleitete Standortgebundenheit oder die Methode der Interessenabwägung und die Partizipation; sie alle sind wichtige Errungenschaften. Ohne die demokratischen Interventions- und Aushandlungsmechanismen öffnet sich ein Graben zwischen Klimaschutz, Biodiversität und Landschaftsschutz einerseits sowie der Gewinnung nicht fossiler Energien anderseits. Dieser Zielkonflikt ist unnötig.

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