Raum, Planung und die Dimension Zeit – eine archäologische Perspektive

Andrea Schaer, freischaffende Archäologin, und Thomas Reitmaier, Kantonsarchäologe GR
Donnerstag, 15.12.2022
Raum und Landschaft wurden über Jahrtausende durch menschliche Aktivitäten geformt und tragen diese Vergangenheit als Bauten, Geländeformation, Nutzung oder archäologische Funde in sich. Wenn wir heute die Raumnutzung und unsere Umgebung der Zukunft planen, so nehmen wir dieses Erbe stets mit. Es ist nicht nur Last, sondern ebenso Potenzial für eine nachhaltige Raumentwicklung.
Im Umfeld des UNESCO-Welterbes Kloster St. Johann in Müstair GR fanden im Sommer 2020 archäologische Ausgrabungen statt. (Foto: Archäologischer Dienst Graubünden)

Überall, wo wir heute wohnen, arbeiten, uns bewegen, wo wir Wald- und Landwirtschaft betreiben, Wasser zu Seen stauen, Bergtäler mit Wegen erschliessen oder die Natur bewundern, waren und wirkten vor uns schon Menschen.

Seit die Menschen sesshaft wurden und begannen, ihren Lebensraum zu gestalten, nahmen sie zunehmend Einfluss auf den sie umgebenden Landschaftsraum. Unsere heutige Landschaft, die Umwelt und unsere Wahrnehmungen sind geformt und geprägt durch diesen human impact. Die Zeugen davon blieben teils sichtbar als Bauwerke, Geländedenkmale oder Kulturlandschaften erhalten. Ein nicht unbedeutender Teil dieses Erbes ist aber im Laufe der Zeit aufgegeben oder von natürlichen Prozessen überformt worden, vergessen oder verloren gegangen. Diese Spuren liegen unsichtbar im Boden als archäologische Funde und Stätten.

Schnittstelle zwischen Raumplanung und Archäologie

Der Landschafts- und Siedlungsraum ist als Gegenstand der Raumplanung kein ahistorisches Gebilde. Und es ist ebenso wenig nur der aktuelle (sichtbare) Zustand, der gestaltet und entwickelt wird. Raum und Landschaft tragen stets auch eine historische Tiefe, die Spuren, Bedingungen und Erfahrungen vergangener Zeiten, Personen und Ereignisse in sich. Damit finden wir uns an der Schnittstelle zwischen Raumplanung und Archäologie wieder.

Archäologie ist die Wissenschaft von den materiellen menschlichen Hinterlassenschaften. Sie erkennt und liest als Methode die Spuren menschlicher Aktivitäten und ordnet sie in die Kulturgeschichte ein. Ihr Betrachtungszeitraum reicht vom ersten Auftreten des Menschen bis in unsere jüngste Vergangenheit. Um ihre Quellen ansprechen und deuten zu können, ist die Archäologie interdisziplinär ausgerichtet und betrachtet Raum und Zeit als Einheit.

In der Praxis hat die Archäologie zwei Standbeine, die sich gegenseitig ergänzen: Zum einen leistet sie als historische Kulturwissenschaft einen wesentlichen Beitrag zur Rekonstruktion und zum Verständnis der Menschheitsgeschichte bis in unsere Gegenwart. Zum anderen bewahrt sie als Bodendenkmalpflege das archäologische Erbe physisch vor Ort oder durch die Dokumentation von Grabungen für die Nachwelt.

Not- und Rettungsgrabungen

In der Schweiz finden heute, wie in den meisten europäischen Ländern, hauptsächlich sogenannte Not- oder Rettungsgrabungen statt: Das heisst, es wird nur dort ausgegraben, wo eine archäologische Fundstelle unmittelbar vor Zerstörung bedroht ist. Reine Forschungsgrabungen finden – vor allem durch Universitäten – nur in Ausnahmen statt, denn jede Ausgrabung bedeutet auch die (mindestens teilweise) Zerstörung einer archäologischen Fundstelle.

In der Schweiz existieren gemäss der Denkmalstatistik von 2016 rund 39‘000 archäologische Fundstellen, das heisst Stellen, an denen ein archäologischer Fund belegt ist. Menschliche Aktivitäten im Raum, planerische und insbesondere physische, tangieren das archäologische Erbe also häufig.

Archäologie beeinflusst Planung

Umgekehrt beeinflusst die Archäologie auch die Planung und deren Umsetzung. Dies zum einen als rechtsverbindliche Archäologische Zonen unterschiedlicher Schutzwirkung oder als Verdachtsflächen. Zum andern als «Blackbox Untergrund», da bei weitem nicht alle Spuren der Vergangenheit bekannt oder in den Inventaren der Kantone erfasst sind. Mit neuen, meldepflichtigen Entdeckungen muss daher stets gerechnet werden!

Für die Planung wirken archäologische Zonen oft limitierend. Für die Archäologie – dieses Dilemma ist zu ertragen – bedeuten die durch Planungen und Bauvorhaben ausgelösten Notgrabungen neben dem Wissenszuwachs stets den Verlust der nicht erneuerbaren Ressource «archäologisches Erbe».

Momentan interveniert die archäologische Bodendenkmalpflege trotz des vielerorts vorbildlichen Einbezugs in Planungs- und Baubewilligungsprozesse und der Zugänglichkeit der archäologischen Inventare für Behörden und private Planer meist reaktiv. Noch immer werden Entwicklungs- und Investitionsentscheide gefällt, ohne die vielschichtige Dimension des zu planenden Raums zu analysieren, zu reflektieren und zu respektieren. Der Bodendenkmalpflege bleibt es dann vorbehalten, den Totalverlust einer Fundstelle zu verhindern und durch eine Grabung wenigstens die zentralen Informationen zu retten.

Archäologische Schutzzonen als «Klimalungen»

Proaktive Strategien sind sowohl auf Seite der archäologischen Bodendenkmalpflege als auch auf «Planerseite» noch selten und wenig etabliert. Vor dem Hintergrund der verknappten Ressource Raum und der wachsenden, drängenderen Ansprüche scheint es angebracht, vermehrt Synergien und neue Wege zu suchen. So könnten archäologische Schutzzonen zu Biodiversitätsflächen und grünen «Klimalungen» werden, wodurch das archäologische Erbe geschont bleibt. Eine nicht nur oberflächlich, sondern auch unter der Grasnarbe intakte Kulturlandschaft ist touristisches Kapital. Sorgfältig unterhaltene historische Baukultur bindet deutlich weniger graue Energie als Neubauten. Das Wissen um die Geschichte, Entstehung und Entwicklung einer Kulturlandschaft ermöglicht wichtige Informationen, die frühzeitig Potenziale und Risiken einer weiteren Entwicklung und Nutzung erkennen lassen.

Ganzheitliches Verständnis von «Raum und Landschaft»

Notwendig scheint daher ein zunehmend ganzheitliches und dialogisches Verständnis von «Raum und Landschaft», um vermeintliche und reale Zielkonflikte frühzeitig auszumachen und Lösungen zu erarbeiten. Ein solcher Weg würde sowohl der «Organisation» unserer Zukunft also auch dem Erbe unserer Vergangenheit Rechnung tragen und eine langfristige Entwicklung unseres beschränkten physisch-kulturellen Lebensraums zulassen.

Zur Autorin, zum Autor

Andrea Schaer, lic. phil., Oberwangen bei Bern. Freischaffende Archäologin. Vorstandsmitglied und Delegierte von Archäologie Schweiz bei Alliance Patrimoine.

Thomas Reitmaier, Dr. phil. Chur. Kantonsarchäologe des Kantons Graubünden. Vorstandsmitglied von Archäologie Schweiz.

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