Widersprüchlicher Nationalrat beim Mantelerlass

Damian Jerjen, Ökonom und Raumplaner, Direktor EspaceSuisse
Donnerstag, 23.03.2023
Der Nationalrat hat den sogenannten Mantelerlass zum Ausbau der erneuerbaren Energiequellen beraten und im Vergleich zum Ständerat einige positive Korrekturen vorgenommen. Aus Sicht des Klima- und Naturschutzes problematisch ist jedoch die vorübergehende Sistierung der Restwasserbestimmungen bei der Grosswasserkraft.
Solarzellen auf Hausdächern stellen ein grosses Potenzial für den Ausbau der erneuerbaren Energiequellen dar. Eine Solarpflicht auf grossen bestehenden Gebäuden wäre konsequent. (Foto: Annemarie Straumann, EspaceSuisse)

Der Nationalrat hat in der Frühlingssession das Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien (21.047) behandelt. Dieser Mantelerlass sieht insbesondere Änderungen im Energie- und im Stromversorgungsgesetz vor (siehe auch Im Fokus vom 3.10.2022). Aber auch das Raumplanungsgesetz (RPG) soll angepasst werden.

Bereits im letzten Herbst hatte das Parlament mit dem sogenannten Solarexpress die Planung für grossflächige Photovoltaikanlagen ausserhalb der Bauzonen praktisch ausgehebelt, um kurzfristig die Produktionskapazität für einheimische erneuerbare Energiequellen zu erhöhen. Nun wurden im Rahmen des Mantelerlass die gesetzlichen Grundlagen für die mittel- bis langfristige Erreichung der Ziele der Energiestrategie 2050 beraten.

Keine Energieproduktion in Biotopen

Im Gegensatz zum Ständerat will der Nationalrat Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien in Biotopen von nationaler Bedeutung sowie in Wasser- und Zugvogelreservaten auch weiterhin ausschliessen. Eine Ausnahme bilden hier die neu entstehenden Gletschervorfelder und alpinen Schwemmebenen, die grundsätzlich für die Produktion erneuerbarer Energien genutzt werden dürfen. Diese Differenz zwischen den beiden Kammern muss noch bereinigt werden.

Wasserkraft hat oberste Priorität

Der wichtigste Pfeiler der Energieproduktion ist der Ausbau der Wasserkraft. Auch der Nationalrat will die 15 grossen Wasserkraftprojekte, die vom sogenannten Runden Tisch priorisiert wurden, so schnell wie möglich realisieren. Um dies zu ermöglichen, werden die Verfahren beschleunigt und das Interesse an der Realisierung dieser Projekte soll anderen Interessen von nationaler Bedeutung grundsätzlich vorgehen. Zudem unterliegen nur Vorhaben an einem neuen Standort einer Planungspflicht. Diese beschränkt sich offenbar auf den Richtplan. Ob eine grundeigentümerverbindliche Nutzungsplanung damit obsolet wird, lässt sich aus dem Gesetzesentwurf nicht herauslesen. Die Anforderungen an die Richtplanung regelt der Bundesrat in der Verordnung. Angesichts der klimapolitischen Ziele sind diese Anpassungen im Sinne einer Beschleunigung teilweise nachvollziehbar, auch wenn damit die Umweltschutzinteressen geschwächt werden.

In Zusammenhang mit der Wasserkraft hat der Nationalrat einen weit umstritteneren Entscheid getroffen: Bei Neukonzessionierungen von Wasserkraftwerken sollen die Bestimmungen zu den Restwassermengen gemäss Artikel 29ff des Gewässerschutzgesetzes (GSchG) sistiert werden, bis die Ausbauziele für die Wasserkraft gemäss Energiestrategie erreicht sind. Mit dieser Bestimmung drohen unwiderrufliche Schäden an intakten Ökosystemen und damit auch unvorhersehbare Folgen für die Umwelt. Auch aus Sicht des Klimaschutzes sind diese Massnahmen widersprüchlich und kontraproduktiv.

Solar- und Windkraft unterliegen der Interessenabwägung

Geht es nach dem Nationalrat, sollen Solar- und Windenergieanlagen im nationalen Interesse – im Gegensatz zur Grosswasserkraft – in Zukunft nicht a priori standortgebunden (für Windenergieanlagen im Wald, siehe unten) und das Interesse an deren Erstellung als gleichwertig und nicht überwiegend zu anderen nationalen Interessen behandelt werden. Auch hier besteht eine Differenz zum Ständerat, welcher diesen Anlagen ein grundsätzlich überwiegendes Interesse zusprechen will.

Solaranlagen ohne nationale Bedeutung ausserhalb der Bauzonen im Nichtlandwirtschaftsgebiet sollen gemäss einer Mehrheit im Nationalrat standortgebunden sein, wenn sie in wenig empfindlichen oder bereits belasteten Gebieten gebaut und mit angemessenem Aufwand ans Stromnetz angeschlossen werden können.

Windenergieanlagen im Wald gelten unter bestimmten Bedingungen als standortgebunden, wenn sie von nationalem Interesse sind und bereits eine Groberschliessung besteht.

Solarpflicht: verpasste Chance bei bestehenden Gebäuden

Wie der Ständerat lehnt auch der Nationalrat neue Massnahmen im Gebäudebereich ab (z. B. eine obligatorische Sanierung von Elektroheizungen oder das Verbot von Elektroboilern).

Auch bei der Solarpflicht für grössere bestehende Gebäude ist der Nationalrat zurückhaltend. Eine Pflicht soll immerhin für Neubauten und erhebliche Um- und Erneuerungsbauten gelten. Ab 2030 soll zudem eine Solarpflicht für Parkplätze ab 250 Quadratmeter gelten. Angesichts der umfangreichen und aus ökologischer Sicht problematischen Lockerungen bei den grossflächigen Solaranlagen wäre es konsequent gewesen, auch bei grossen bereits bestehenden Gebäuden Solarpanels auf die Dächer zu verordnen – eine verpasste Chance.

In der Endabstimmung hat die grosse Kammer das umstrittene Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien (21.047) mit 104 zu 54 Stimmen bei 33 Enthaltungen angenommen. Aufgrund der erwähnten Differenzen wird sich der Ständerat erneut mit der Vorlage befassen müssen. Schon jetzt ist absehbar: Wird beim Natur- und Gewässerschutz nicht korrigiert, droht der Vorlage das Referendum seitens Umweltverbänden.

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