Aus dem Kongress-Labor von EspaceSuisse

Monika Zumbrunn, Leiterin Kommunikation EspaceSuisse
Mittwoch, 05.07.2023
Die Raumplanung steht in der Verantwortung, wenn es darum geht, aktuelle Herausforderungen wie den Klimawandel anzugehen. Am Kongress von EspaceSuisse dachten rund 250 Fachleute über die Grenzen des Wachstums und über die notwendige Transformation hin zu einer nachhaltigen Raumentwicklung nach. Dabei wagten sie auch das Experiment.
Foto: Patrik Kummer, EspaceSuisse

Am Kongress von EspaceSuisse trifft sich die Fachwelt in Solothurn jeweils zum gepflegten Austausch über allerlei Fragen zur Raumplanung. Dies war auch am vergangenen 29. Juni wieder der Fall – aber da war noch etwas anderes: Der Kongress stand im Zeichen des Experiments. Gleich zu Beginn luden EspaceSuisse-Direktor Damian Jerjen und seine Stellvertreterin Christa Perregaux zu einer kleinen Achtsamkeitsübung ein. Und siehe da: Der volle Landhaus-Saal liess sich genauso darauf ein wie auf die Diskussionen über die «Raumplanung und die Grenzen des Wachstums».

Wachstumstreiber Bevölkerungsszenario

Den Auftakt machte Prof. Dr. Irmi Seidl, die sich an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald Schnee und Landschaft (WSL) seit Jahren mit dem Thema Wachstum auseinandersetzt. «Die Wachstumspolitik bremst die Umweltpolitik aus», stellte Seidl fest und warf dabei einen kritischen Blick auf die Bevölkerungsszenarien des Bundesamts für Statistik – Grundlage für so manche Planung. Diese Szenarien seien weniger Trends als vielmehr selbsterfüllende Prophezeiungen – und damit Wachstumstreiber. Statt Trendszenarien fordert Seidl Zielszenarien, welche die ökologischen Grenzen berücksichtigten.

Prof. Dr. Christian Arnsperger vom Institut für Geografie und Nachhaltigkeit der Universität Lausanne ging noch einen Schritt weiter und erklärte den globalisierten Kapitalismus als gescheitert. Das verschwenderische System schaffe Ungleichheiten, und auch die Schweiz sei längst nicht so tugendhaft wie sie sich darstelle. «Wir leben zu Lasten anderer», sagte Arnsperger. Dabei liesse sich auch gut oder gar besser mit weniger leben – Stichwort Suffizienz.

Bau – Energie – Verkehr

Die beiden Einstiegsreferate zum (Post-)Wachstum legten den Teppich für drei konkrete Themen. Markus Mettler, CEO des Bauunternehmens Halter AG sowie Co-Präsident des «Do Tanks» the branch, hielt der Bauwirtschaft den Spiegel vor: «Die Industrie muss die Verschleuderung von Ressourcen in den Griff kriegen.» Abhilfe würde unter anderem die Planung mit «digitalen Zwillingen» schaffen, die frühzeitig über die notwendigen Informationen für eine Kreislaufwirtschaft sorgten und den Dialog über die gesamte Wertschöpfungskette erleichterten.

Klaus Riva vom Bundesamt für Energie rief sodann die ehrgeizigen Pläne des Bundesrats in Erinnerung, wie das Netto-Null-Ziel bis 2050 zu erreichen ist. Die nötigen Technologien für die Transformation des Energiesystems seien zwar vorhanden oder in Entwicklung, aber der Endenergieverbrauch müsse trotzdem reduziert werden.

Wer die CO2-Emmissionen eingrenzen will, kommt um den Verkehr nicht herum: Prof. Dr. Patrick Rérat, ebenfalls vom Institut für Geografie und Nachhaltigkeit der Universität  Lausanne, plädierte für den effizientesten Hebel, nämlich den Verkehr zu vermeiden oder zumindest stark zu verringern. Gefragt sind hierfür urbane Qualitäten, wie beispielsweise gute Infrastruktur für den Langsamverkehr sowie Nähe zwischen den verschiedenen Nutzungen.

Bekanntes über Bord werfen

Am Nachmittag verwandelte sich das Landhaus in ein grosses Zukunftslabor. Unter der Anleitung des Innovationsbüros Planval arbeiteten die Kongressteilnehmerinnen und -teilnehmer in kleinen Gruppen an vier verschiedenen Themen. Radikales Denken war gefragt – was für die eine oder den anderen keine einfache Aufgabe war.

Vier Herausforderungen standen im Mittelpunkt:

  1. Wie können wir die Gemeinden motivieren, den motorisierten Individualverkehr radikal zu reduzieren?
  2. Wie können wir die Gemeinden befähigen, gemeinsam mit den privaten Akteuren die höchste Siedlungsqualität zu schaffen?
  3. Wie können wir die privaten und öffentlichen Akteure unterstützen, den Energieverbrauch radikal zu reduzieren?
  4. Wie können wir politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger dazu motivieren, die natürlichen Ressourcen zu schützen und deren positive Entwicklung voranzutreiben?

Innerhalb einer Stunde entstanden so 35 Projektskizzen – ohne Feinschliff, aber dafür mit neuen Zugängen und durchaus radikal. Unter den acht am Schluss prämierten Ideen fand sich zum Beispiel ein Gemeinwohlindex, um die Siedlungsqualität zu erhöhen: je mehr jemand (ein Bauherr?) an das Gemeinwohl denkt, desto weniger Gemeinwohlsteuer ist fällig – nichts weniger als ein Steuersystemumbau der anderen Art. Originell war der Nutri-score für Politikerinnen und Politiker, deren Entscheide hinsichtlich der Auswirkungen auf den Boden beurteilt werden. Und ziemlich radikal unterwegs war die Gruppe, die den Zonenplan schlichtweg aufheben und durch – vom Ort abgeleitete – spezifische Lösungen ersetzen wollte.

Für einmal war nicht entscheidend, ob sich die Ideen umsetzen lassen – was da und dort zu Irritationen führte: Raumplanerinnen und Raumplaner sind gewohnt, im Rahmen des Machbaren zu arbeiten. Die grosse Mehrheit der Anwesende aber stürzte sich mit grosser Lust in das Experiment. Sie wagten den Schritt, die Raumplanung neu zu denken.

Die Projektideen aus dem «Future Design Lab» werden später auf espacesuisse.ch veröffentlicht. Und wer weiss: Vielleicht findet der eine oder andere originelle Ansatz aus dem Kongresslabor von EspaceSuisse seinen Weg in die reale Welt.

Zwei Werkstattberichte in Kürze

Der Rat für Raumordnung (ROR) beschäftigt sich derzeit mit den Peripherien in der Schweiz. Diese sind laut ROR-Präsidentin Prof. Dr. Heike Mayer durchaus auch «Chancenräume», zum Beispiel wenn in der Peripherie über Experimente Lösungen für Herausforderungen wie der Klimawandel gefunden werden können. Dabei gebe es nicht nur eine Peripherie, sondern gleich fünf Typen: von der städtischen Peripherie über die Regionalzentren bis zur ländlichen Peripherie. Der Schlussbericht des ROR soll Anfang 2024 vorgestellt werden.

Noch ganz am Anfang stehen die Diskussionen zum Raumkonzept Schweiz, das derzeit aktualisiert wird. Man sei interdisziplinär unterwegs, erklärte Dr. Maria Lezzi, Direktorin des Bundesamts für Raumentwicklung, verwende neue Methoden und beziehe zum Beispiel auch die Jugend mit ein. Ziel ist, die Idee einer Schweiz von 2050 zu entwerfen. Der Bericht zum aktualisierten Raumkonzept Schweiz ist im Sommer 2024 zu erwarten.

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